DIE NATUR DES BÖSEN
Der
strahlende nächste Morgen kam viel zu schnell. Eragon fuhr beim
Brummen der Weckkugel auf, griff nach dem Jagdmesser und sprang in
Erwartung eines Angriffs aus dem Bett. Er keuchte, als nach den
Anstrengungen der letzten beiden Tage jeder Muskel in seinem
geschundenen Körper schmerzhaft protestierte.
Er blinzelte sich die Tränen aus den Augen
und zog die Weckkugel auf. Orik war verschwunden. Der Zwerg musste
noch vor dem Morgengrauen hinausgeschlüpft sein. Stöhnend schleppte
Eragon sich in die Waschkammer und kam sich dabei wie ein alter
Mann vor, der unter Rheumatismus litt.
Er und Saphira warteten zehn Minuten am Fuß
des Baumes, bis ein ernst dreinschauender, schwarzhaariger Elf sie
abholte. Er verbeugte sich und führte zwei Finger an die Lippen,
was Eragon ihm nachtat, und dann kam er Eragon zuvor, indem er
sagte: »Möge das Glück dir hold sein.«
»Mögen die Sterne über dich wachen«,
erwiderte Eragon. »Hat Oromis dich geschickt?«
Der Elf ignorierte ihn und wandte sich zu
Saphira. »Sei gegrüßt, Drache. Ich bin Vanir aus dem Hause
Haldthin.« Eragon runzelte verärgert die Stirn.
Sei gegrüßt,
Vanir.
Erst dann wandte sich der Elf wieder an
Eragon. »Ich zeige dir, wo du mit deinem Schwert üben kannst.« Mit
diesen Worten ging er voran, ohne auf Eragon zu warten.
Auf dem Übungsfeld kämpften Elfen beiderlei
Geschlechts in Paarungen und Gruppen. Ihre außergewöhnlichen
körperlichen Fähigkeiten erlaubten ihnen so rasend schnelle
Schlagfolgen, dass es klang, als würde ein Hagelsturm auf eine
Eisenglocke prasseln. Unter den Kiefern, die das Feld umsäumten,
vollführten einzelne Elfen den Tanz von Schlange und Kranich mit
einer Anmut und Gelenkigkeit, die Eragon sich selbst voll Bedauern
absprach.
Nachdem alle auf dem Feld ihre Übungen
unterbrochen und sich vor Saphira verbeugt hatten, zückte Vanir
sein schlankes Schwert. »Stumpfe deine Klinge, Silberhand, es geht
los!«
Verzagt betrachtete Eragon die
übermenschliche Schwertkunst der ihn umgebenden
Elfen. Warum muss ich das tun?,
fragte er. Ich werde hier nur
gedemütigt.
Du wirst dich schon
nicht blamieren, sagte Saphira, doch Eragon spürte ihre Sorge
um ihn.
Das sagst du
so.
Während Eragon Zar’roc präparierte,
zitterten ihm vor Furcht die Hände. Und statt danach einfach
draufloszustürmen, hielt er respektvoll Abstand zu Vanir, wich ihm
aus, sprang zur Seite und tat alles, um einen weiteren Anfall zu
vermeiden. Doch trotz Eragons geschickter Ausweichmanöver landete
Vanir kurz nacheinander vier Treffer, einmal an den Rippen, am
Schienbein und an beiden Schultern.
Vanirs anfänglich unbewegte Miene zeigte
bald offene Verachtung. Er tänzelte vor, glitt mit dem Schwert der
Länge nach über Zar’rocs Klinge und drückte sie gleichzeitig
herunter. Die Drehung verbog Eragons Handgelenk, sodass er das
Schwert lieber losließ, statt zu versuchen, sich der überlegenen
Kraft des Elfen entgegenzustemmen.
Vanirs Schwert sauste auf Eragons Hals
herunter. »Tot«, sagte er. Eragon streifte die Klinge mit einem
Schulterzucken ab, trottete zu seiner eigenen Waffe und hob sie
auf. »Tot«, wiederholte Vanir. »Wie willst du so gegen Galbatorix
kämpfen? Ich hätte mehr erwartet, selbst von einem verweichlichten
Menschen.«
»Warum kämpfst du dann nicht selbst gegen
Galbatorix, statt dich in Ellesméra zu verkriechen?«
Vanir fuhr wütend auf. »Weil ich kein
Drachenreiter bin. Und wenn ich einer wäre, wäre ich bestimmt nicht
so ein Feigling wie du.«
Die Elfen auf dem Feld hielten inne.
Eragon wandte sich von Vanir ab und schaute
knurrend zum Himmel auf. Er hat keine
Ahnung. Das ist nur ein Test, den ich bestehen muss.
»Feigling, habe
ich gesagt«, wiederholte Vanir. »Dein Blut ist genauso dünn wie das
aller Menschen. Saphira muss von Galbatorix’ Gaunereien verwirrt
gewesen sein und hat den Falschen zu ihrem Reiter erwählt.« Die
umstehenden Elfen brachen in aufgeregtes Gemurmel aus, mit
offenkundiger Missbilligung für diese ungeheuerliche
Beleidigung.
Eragon knirschte mit den Zähnen. Er ertrug
es, wenn man ihn beschimpfte, nicht aber, wenn jemand Saphira
angriff. Sie war schon im Begriff, sich zu rühren, aber er kam ihr
zuvor, als seine angestaute Frustration, seine Furcht und sein
Schmerz aus ihm herausbrachen und er mit hochgerissenem Schwert
herumwirbelte.
Der Schlag hätte Vanir auf der Stelle
getötet, wenn er ihn nicht in letzter Sekunde abgeblockt hätte. Die
Wildheit des Angriffs schien ihn zu überraschen. Diesmal hielt
Eragon sich nicht zurück, sondern trieb Vanir in die Mitte des
Feldes und schlug um sich wie ein Verrückter. Er war fest
entschlossen, dem Elf wehzutun, egal wie. Er traf Vanir so hart an
der Hüfte, dass trotz Zar’rocs stumpfer Schneide Blut floss.
Sowie er den Treffer gelandet hatte,
explodierte in Eragons Rücken ein so fürchterlicher Schmerz, dass
er ihn mit allen fünf Sinnen erlebte: als ohrenbetäubenden
Wasserfall, als metallischen Geschmack auf der Zunge, als beißenden
Essiggestank, der ihm die Tränen in die Augen trieb, als
pulsierende Farben und vor allem als das Gefühl, Durza hätte ihm
gerade erneut den Rücken aufgeschlitzt.
Er sah Vanir über sich stehen und
verächtlich auf ihn herabstarren. Da wurde Eragon klar, dass der
Elf noch sehr jung sein musste.
Nach dem Anfall wischte Eragon sich das Blut
vom Mund und hielt Vanir die blutverschmierte Hand hin. »Dünn
genug?«, fragte er. Vanir würdigte ihn keines Blickes, sondern
schob einfach das Schwert in die Scheide und ging davon.
»Wo willst du hin?«, rief Eragon ihm nach.
»Wir sind noch nicht miteinander fertig.«
»Du bist nicht gesund, du kannst nicht
kämpfen«, höhnte der Elf.
»Versuch’s doch!« Eragon mochte den Elfen
zwar unterlegen sein, aber er würde ihnen nicht die Genugtuung
geben, ihre Einschätzung seiner mangelhaften Fähigkeiten zu
bestätigen. Er würde ihren Respekt durch schiere Unnachgiebigkeit
gewinnen.
Er bestand darauf, eine volle
Schwertkampfstunde zu bekommen, so wie es Oromis festgelegt hatte,
und am Ende ging Saphira auf Vanir zu und legte ihm eine spitze
Klaue an die Brust. Tot, zischte sie
ihn an. Vanir wurde blass und die anderen Elfen wandten sich von
ihm ab.
Als sie in der Luft waren, sagte
Saphira: Oromis hatte Recht.
Womit?
Du strengst dich mehr
an, wenn du einen richtigen Gegner hast.
Vor Oromis’ Hütte ging es wie gewohnt
weiter. Saphira und Glaedr flogen zu ihren Lektionen, während
Eragon bei Oromis blieb.
Eragon war erschrocken, als Oromis von ihm
verlangte, zusätzlich zum Schwertkampf auch noch den Rimgar zu
absolvieren. Es kostete ihn allen Mut, seinem Lehrmeister zu
gehorchen, doch seine Befürchtungen waren unbegründet. Der Tanz von
Schlange und Kranich verlief heute sehr sanft und überforderte ihn
nicht.
Die Dehnungsübungen und die anschließende
Meditation in der Baumgrotte boten Eragon endlich die Gelegenheit,
seine Gedanken zu ordnen und über die Frage nachzudenken, die
Oromis ihm gestellt hatte.
Unterdessen beobachtete er, wie seine roten
Ameisen in einen kleineren, konkurrierenden Ameisenhügel einfielen,
die Bewohner überrannten und deren Vorräte plünderten. Am Ende des
Massakers überlebte nur eine Hand voll der ehemaligen Rivalen, die
nun allein und ziellos zwischen den Kiefernnadeln
umherirrten.
Wie die Drachen in
Alagaësia, dachte Eragon. Seine Verbindung zu den Ameisen
erlosch, als er über das traurige Schicksal der Drachen nachdachte.
Dabei offenbarte sich ihm Stück für Stück die Lösung des Problems,
bis er schließlich eine Antwort auf Oromis’ Frage fand, mit der er
leben und an die er glauben konnte.
Er beendete seine Meditation und kehrte zur
Hütte zurück. Diesmal war Oromis zufrieden mit dem, was Eragon zu
berichten hatte.
Als der Elf das Mittagessen auftrug, sagte
Eragon: »Ich weiß jetzt, warum es wert ist, gegen Galbatorix
kämpfen, obwohl dabei tausende ihr Leben verlieren könnten.«
»Wirklich?« Oromis setzte sich. »Dann erzähl
es mir.«
»Weil Galbatorix in den letzten hundert
Jahren mehr Leid verursacht hat, als wir Übrigen jemals in einer
einzigen Generation anrichten könnten. Und anders als bei einem
gewöhnlichen Tyrannen können wir nicht auf seinen Tod hoffen. Er
könnte seine Schreckensherrschaft noch jahrhunderte- oder gar
jahrtausendelang fortsetzen, wenn wir sie nicht beenden. Wenn er
stark genug wäre, würde er sofort gegen die Zwerge und Euch hier in
Du Weldenvarden marschieren und beide Völker auslöschen oder
unterjochen. All dies muss - auch um den Preis ungezählter Opfer -
verhindert werden. Und außerdem...«, Eragon rieb sein Handgelenk an
der Tischkante, »… außerdem gibt es nur einen Weg, die Drachen zu
retten: Wir müssen Galbatorix die beiden Dracheneier
stehlen.«
Oromis’ pfeifender Teekessel unterbrach die
Stille, die Eragons Ausführungen folgte. Der Ton schwoll an, bis er
ihm in den Ohren schmerzte. Oromis stand auf, nahm den Kessel vom
Feuer und goss einen Blaubeertee auf. Die Falten um seine Augen
wurden weicher. »Jetzt begreifst du«, erklärte er.
»Ich begreife es, aber es gefällt mir nicht
besonders.«
»Das soll es auch nicht. Aber jetzt können
wir zuversichtlich sein, dass du nicht vom Weg abkommst, wenn du
mit den unvermeidlichen Ungerechtigkeiten und Gräueln konfrontiert
wirst. Wir können es uns nicht leisten, dass dich Zweifel
verzehren, wenn deine Kraft und Konzentration am meisten gefragt
sind.« Oromis legte die Fingerspitzen aneinander und schaute auf
die spiegelnde Oberfläche des Tees, schien darüber nachzudenken,
was er in der dunklen Reflexion sah. »Glaubst du, dass Galbatorix
böse ist?«
»Natürlich!«
»Glaubst du, dass er sich selbst für böse
hält?«
»Nein, das bezweifle ich.«
»Und du glaubst auch, dass Durza böse
war?«
Eragon fielen die bruchstückhaften
Erinnerungen ein, die er in Durzas Geist gesehen hatte, als sie in
Tronjheim gegeneinander gekämpft hatten. Er entsann sich, wie der
junge Schatten, der damals noch Carsaib hieß, von den Dämonen
versklavt worden war, die er selbst gerufen hatte, um den Tod
seines Mentors Haeg zu rächen. »Er selbst war nicht böse, sondern
die Dämonen, die ihn beherrschten.«
»Und die Urgals?«, forschte Oromis weiter
und schlürfte seinen Tee. »Sind sie böse?«
Eragons Knöchel wurden weiß, so fest
umschloss er seinen Löffel. »Wenn ich an den Tod denke, sehe ich
die Fratze eines Urgals. Es sind Bestien. Was sie getan haben...«
Er schüttelte den Kopf, unfähig weiterzusprechen.
»Eragon, welche Meinung hättest du wohl von
einem Volk, wenn du nur seine Krieger auf dem Schlachtfeld, nicht
aber seine braven Bauern kennen würdest?«
»Das ist nicht...« Er holte tief Luft. »Das
ist etwas anderes. Die Urgals haben es verdient, dass man sie
auslöscht, bis hin zum Letzten ihrer Art.«
»Selbst die Frauen und Kinder? Auch
diejenigen, die nie etwas Böses getan haben und es wahrscheinlich
nie tun werden? Die Unschuldigen? Würdest du auch sie töten und
damit ein ganzes Volk in den Untergang treiben?«
»Andersherum würden sie uns ja auch nicht
verschonen.«
»Eragon!«, herrschte Oromis ihn an. »Ich
will nie wieder eine solche Rechtfertigung von dir hören! Denke
nie, dass du etwas tun darfst, nur weil jemand anderes es auch
getan hätte oder tun würde! Das ist anmaßend und zeugt von einer
niederen Gesinnung! Habe ich mich klar ausgedrückt?«
»Ja, Meister.«
Der Elf hob den Becher an die Lippen und
trank einen Schluck Tee, ohne Eragon aus den Augen zu lassen. »Was
weißt du überhaupt über die Urgals?«
»Ich kenne ihre Stärken und ihre Schwächen
und weiß, wie man sie umbringen kann. Mehr brauche ich nicht zu
wissen.«
»Aber warum hassen sie die Menschen und
bekämpfen sie? Was ist mit ihrer Geschichte und ihren Legenden oder
ihrer Lebensweise?«
»Spielt das eine Rolle?«
Oromis seufzte. »Vergiss nicht«, sagte er
gütig, »irgendwann können Feinde zu Verbündeten werden. Das ist der
Lauf des Lebens.«
Eragon unterdrückte den Impuls zu
widersprechen. Er schwenkte seinen Tee so schnell im Becher herum,
dass die Flüssigkeit im Mittelpunkt des Strudels eine weiße
Schaumkrone bildete. »Hat Galbatorix deshalb die Urgals
angeworben?«
»Das ist zwar ein unglückliches Beispiel,
aber ja, so kann man es sehen.«
»Ich finde es seltsam, dass er sich mit
ihnen verbündet hat. Immerhin haben sie seinen Drachen getötet.
Wenn man bedenkt, was er uns, den Reitern, angetan hat! Und wir
waren nicht einmal für den Verlust verantwortlich!«
»Oh«, entgegnete Oromis, »Galbatorix mag
verrückt sein, aber er ist trotzdem ein listiger Fuchs. Er wollte
die Urgals benutzen, um die Varden und Zwerge auszulöschen. Mit
einem Sieg in Farthen Dûr hätte er sich zweier Feinde entledigt und
gleichzeitig die Urgals so geschwächt, dass er sie jederzeit nach
Gutdünken hätte vernichten können.«
Das Studium der alten Sprache beanspruchte
den ganzen Nachmittag und danach setzten sie die Übungen in Magie
fort. Oromis’ Vortrag behandelte vor allem die Art, wie man die
verschiedenen Energieformen richtig kontrollierte: Licht, Wärme,
Magnetismus und sogar die Schwerkraft. Er erklärte, dass diese
Energien die eigene Lebenskraft schneller verzehrten als andere
Zauber und dass es deshalb sicherer sei, sie der Umgebung zu
entziehen und sie dann mit Gramarye für den jeweiligen Zweck zu formen,
statt sie aus dem Nichts zu erschaffen.
»Wie würdest du mit Magie töten?«, fragte er
schließlich.
»Ich habe es auf vielerlei Arten getan«,
antwortete Eragon. »Beim Jagen habe ich mit Magie einen Kieselstein
als Wurfgeschoss benutzt, mit jierda habe ich den Urgals Beine und Genick
gebrochen und einmal habe ich mit dem Wort thrysta das Herz eines Mannes zum Stillstand
gebracht.«
»Es gibt weit wirkungsvollere Methoden«,
verriet ihm Oromis. »Was braucht es, um einen Gegner zu töten,
Eragon? Ein Schwert, das man ihm in die Brust rammt? Ein
gebrochenes Genick? Gift? Weit gefehlt: Es genügt, eine einzige
Arterie in seinem Hirn platzen zu lassen oder bestimmte
Nervenbahnen zu durchtrennen. Mit dem richtigen Zauberspruch kann
man auf einen Schlag eine ganze Streitmacht vernichten.«
»Das hätte ich in Farthen Dûr wissen
sollen«, sagte Eragon verdrossen. Nicht
nur in Farthen Dûr, sondern auch, als die Kull uns aus der
Hadarac-Wüste gejagt haben. »Warum hat Brom mir das nicht
beigebracht?«
»Weil er nicht damit gerechnet hat, dass du
in den nächsten Monaten oder Jahren einer Armee entgegentreten
müsstest. Ein solches Werkzeug gibt man keinem unerfahrenen
Drachenreiter an die Hand.«
»Wenn es so einfach ist, Menschen zu töten,
warum stellen wir und Galbatorix dann überhaupt noch Armeen
auf?«
»Mit einem Wort gesagt: Taktik. Zauberkundige sind sehr anfällig für
körperliche Angriffe, wenn sie ihre Magie wirken. Deshalb brauchen
sie Krieger, die sie beschützen. Und diese Krieger müssen
ihrerseits vor magischen Attacken geschützt werden, sonst könnte
man sie innerhalb von Minuten niedermetzeln. Deshalb müssen sich
die Zauberkundigen über die ganze Armee verteilen, wenn zwei Heere
aufeinander prallen. Sie öffnen den Geist und versuchen zu
erkennen, ob der Feind magische Kräfte einsetzt oder im Begriff
ist, es zu tun. Und da ihre Kontrahenten sich außerhalb ihrer
mentalen Reichweite befinden könnten, errichten sie geistige
Schutzwälle um sich und ihre Krieger. Damit verhindern sie Angriffe
aus der Ferne, zum Beispiel mit Steinen, die man ihnen aus einer
Meile Entfernung an den Kopf schleudert.«
»Aber ein Mann allein kann doch keine ganze
Armee beschützen«, sagte Eragon.
»Nicht allein, nein, aber mehrere seiner
Art. Die größte Gefahr bei einem solchen Konflikt besteht darin,
dass sich ein geschickter Magier einen Kniff ausdenkt, mit dem er
den feindlichen Schutzwall umgeht, ohne dass man es bemerkt. Das
allein kann schon genügen, um eine Schlacht zu entscheiden.
Allerdings«, fuhr Oromis fort, »darf man
nicht vergessen, dass die verschiedenen Völker nur über eine
verschwindend geringe Zahl von wirklich mächtigen Magiern verfügen.
Wir Elfen bilden da keine Ausnahme, obwohl es bei uns mehr
Zauberkundige gibt als irgendwo sonst. Die meisten, die magische
Fähigkeiten besitzen, sind nicht besonders talentiert. Es bereitet
ihnen schon Mühe, eine kleine Schnittwunde zu heilen.«
Eragon nickte. Bei den Varden war er einigen
dieser Quacksalber begegnet. »Und trotzdem brauche ich dieselbe
Menge an Energie wie sie, um eine Aufgabe zu
bewerkstelligen?«
»Energie, ja, aber die niederen Magier
fühlen den Strom der Magie nicht so leicht wie du oder ich und
tauchen viel schwerer in ihn ein. Nur wenige Zauberkundige sind
mächtig genug, um eine Bedrohung für eine ganze Armee darzustellen.
Und diejenigen, die es sind, verbringen bei einer Schlacht die
meiste Zeit damit, ihren Gegnern auszuweichen, sie aufzuspüren oder
zu bekämpfen, was für die gewöhnlichen Krieger natürlich ein Glück
ist, denn sonst hätten sie nicht lange zu leben.«
Besorgt stellte Eragon fest: »Unter den
Varden gibt es nicht viele Magier.«
»Deshalb bist du ja so wichtig für
sie.«
Eragon dachte kurz über Oromis’ Ausführungen
nach. »Diese Schutzwälle... Zehren sie nur dann an der Lebenskraft,
wenn sie aktiviert sind?«
»Ja.«
»Wenn man genug Zeit hätte, könnte man dann
mehrere Schutzwälle aufeinander schichten? Könnte man sich...« Er
rang mit der alten Sprache, während er sich richtig auszudrücken
versuchte. »Könnte man sich unantastbar machen? Unüberwindbar? Ich
meine, unüberwindbar für jeden Angriff, sei er nun magisch oder
körperlich?«
»Die Macht der Schutzwälle hängt von der
Kraft deines Körpers ab. Ist diese Kraft erschöpft, stirbst du.
Egal wie viele Schutzwälle du errichtest, du kannst die Angriffe
nur so lange abblocken, wie dein Körper genügend Energie
spendet.«
»Galbatorix’ Kraft ist mit jedem Jahr
gewachsen... Wie ist das möglich?«
Es war eine rhetorische Frage, doch als
Oromis schwieg und mit seinen mandelförmigen Augen zu drei
Schwalben aufschaute, die über ihnen Pirouetten drehten, begriff
Eragon, dass der Elf ernsthaft überlegte, wie er ihm antworten
sollte. Die Vögel jagten einander einige Minuten lang hinterher.
Als sie schließlich davonflatterten, sagte Oromis: »Dieses Thema
ist im Augenblick nicht von Bedeutung.«
»Dann wisst Ihr es also?«, rief Eragon
erstaunt.
»Ja. Aber diese Information kann ich dir
erst zu einem späteren Zeitpunkt deiner Ausbildung geben. Noch bist
du nicht bereit dafür.« Oromis sah Eragon an, als erwartete er
dessen Widerrede.
Eragon verbeugte sich. »Wie Ihr wünscht,
Meister.« Er würde Oromis diese Information niemals entlocken
können, solange der Elf nicht gewillt war, sie preiszugeben. Warum
es also versuchen? Trotzdem fragte er sich, was daran so gefährlich
sein mochte, dass Oromis es ihm nicht zu sagen wagte, und warum die
Elfen dieses Wissen vor den Varden geheim hielten. Dann kam ihm ein
anderer Gedanke. »Wenn Schlachten mit Zauberkundigen so
durchgeführt werden, wie Ihr gesagt habt, warum hat mich Ajihad
dann in Farthen Dûr ohne Schutzwall kämpfen lassen? Und warum hat
Arya die Urgals nicht getötet? Es waren keine feindlichen Magier da
außer Durza, und der hätte die Urgals nicht schützen können,
solange er sich unter der Erde aufhielt.«
»Ajihad hat Arya und die Du Vrangr Gata
nicht aufgefordert, einen Schutzwall um dich zu legen?«, wollte
Oromis wissen.
»Nein, Meister.«
»Und du hast trotzdem gekämpft?«
»Ja, Meister.«
Oromis’ Blick wurde leer, als er sich in
sein Inneres versenkte und regungslos auf der Wiese stand.
Unvermittelt sagte er: »Ich habe mit Arya gesprochen. Sie meinte,
den Zwillingen sei befohlen worden, deine Fähigkeiten zu testen.
Sie haben Ajihad gesagt, du würdest die Magie zur Genüge
beherrschen, einschließlich der Errichtung von Schutzwällen. Weder
Ajihad noch Arya haben diese Einschätzung angezweifelt.«
»Diese verlogenen, hinterhältigen
Mistkerle!«, fluchte Eragon. »Sie haben mich ins offene Messer
rennen lassen!« Er bediente sich seiner eigenen Sprache und legte
noch einige derbe Schimpfworte nach.
»Verpeste die Luft nicht«, rief Oromis ihn
sanft zur Ordnung. »Das bekommt dir nicht... Außerdem vermute ich,
dass die Zwillinge dich nicht ungeschützt in den Kampf ziehen
ließen, damit dustirbst, sondern weil
Durza dich gefangen nehmen sollte.«
»Was?«
»Deinen eigenen Aussagen zufolge hat Ajihad
vermutet, dass jemand die Varden verraten habe, weil Galbatorix
plötzlich anfing, ganz zielgerichtet ihre Verbündeten im Imperium
dingfest zu machen. Die Zwillinge haben gewusst, wer diese
Verbündeten waren. Außerdem haben sie dich ins Herz von Tronjheim
hineingelotst und dich dadurch von Saphira getrennt und in Durzas
Reichweite gelockt. Es ist nur logisch, dass sie die Verräter
waren.«
»Falls das wirklich stimmt«, sagte Eragon,
»spielt es keine Rolle mehr. Denn sie sind tot.«
Oromis legte den Kopf schräg. »Trotzdem,
Arya sagte, die Urgals hätten in Farthen Dûr Magier dabeigehabt und
sie selbst habe gegen viele gekämpft. Und dich hat keiner von ihnen
angegriffen?«
»Nein, Meister.«
»Das ist ein weiterer Beleg dafür, dass
Durza dich und Saphira fangen und zu Galbatorix bringen sollte. Der
Hinterhalt war sehr gut geplant.«
Im Laufe der nächsten Stunde lehrte Oromis
Eragon zwölf verschiedene Arten zu töten, von der keine mehr Kraft
kostete, als einen in Tinte getauchten Federkiel zu heben. Nachdem
Eragon sich den letzten Zauberspruch eingeprägt hatte, kam ihm ein
Gedanke, bei dem er grinsen musste. »Die Ra’zac haben keine Chance,
wenn sie mir das nächste Mal in die Quere kommen.«
»Du musst dich trotzdem vor ihnen in Acht
nehmen«, sagte Oromis.
»Warum? Drei Worte, und sie sind
erledigt.«
»Was fressen Fischadler?«
»Fisch, natürlich«, antwortete Eragon
verwirrt.
»Wenn ein bestimmter Fisch etwas flinker und
gewitzter ist als seine Brüder, kann er dann einem jagenden
Fischadler entkommen?«
»Das bezweifle ich«, sagte Eragon.
»Jedenfalls nicht sehr lange.«
»So wie diese Adler perfekte Fischjäger
sind, sind Wölfe dazu geboren, Hirsche und anderes Großwild zu
reißen. Jedes Tier besitzt die Fähigkeiten, die seinen Zwecken am
besten dienen. Und die Ra’zac sind dazu geschaffen, Menschen zu
jagen. Sie sind die Monster der Nacht, die geifernden Albträume,
die dein Volk heimsuchen.«
Eragon kribbelte der Nacken vor Grauen. »Was
sind das für Kreaturen?«
»Sie sind mit keinem der uns bekannten
Völker verwandt, und sie sind auch keine Tiere, Reptilien oder
Insekten, noch fallen sie in irgendeine andere Kategorie der
Fauna.«
Eragon lachte gezwungen. »Sie sind doch wohl
keine Pflanzen?«
»Auch das nicht. Sie pflanzen sich fort,
indem sie wie Drachen Eier legen. Nachdem die Jungen, oder Larven,
geschlüpft sind, entwickeln sie schwarze Exoskelette, die der
menschlichen Gestalt ähneln. Es ist zwar eine groteske Imitation,
aber es sieht so überzeugend aus, dass sich die Ra’zac ihren Opfern
nähern können, ohne sofort aufzufallen. In allen Bereichen, in
denen die Menschen schwach sind, sind die Ra’zac stark. Sie können
selbst bei tiefster Dunkelheit klar sehen, wittern Spuren wie
Bluthunde, springen höher und bewegen sich schneller als jeder
Mensch. Helles Licht aber bereitet ihnen Schmerzen und sie fürchten
sich vor tiefem Wasser, denn sie können nicht schwimmen. Ihre
gefährlichste Waffe ist ihr giftiger Atem, der den Geist ihrer
Opfer lähmt und die meisten Menschen bewegungsunfähig macht. Bei
Zwergen wirkt er allerdings weniger stark und wir Elfen sind immun
dagegen.«
Eragon schauderte, als ihm seine erste
Begegnung mit den Ra’zac einfiel: Als sie ihn bemerkten, hatte er
sich nicht mehr bewegen können. »Es war wie in einem Traum, in dem
ich fortrennen wollte, aber es nicht konnte, wie sehr ich mich auch
angestrengt habe.«
»Das ist eine gute Beschreibung«, sagte
Oromis. »Obwohl die Ra’zac keine magischen Kräfte besitzen, darf
man sie nicht unterschätzen. Wenn sie wissen, dass man sie jagt,
zeigen sie sich nicht, sondern bleiben im Verborgenen. Dort sind
sie stark und planen einen Hinterhalt, so wie sie es in Dras-Leona
getan haben. Selbst Broms Erfahrung konnte ihn nicht vor ihnen
retten. Werde niemals zu selbstsicher, Eragon! Und hüte dich vor
Überheblichkeit, denn sie macht dich sorglos und nachlässig, und
deine Feinde werden deine Schwäche ausnutzen.«
»Ja, Meister.«
Oromis fixierte Eragon mit einem scharfen
Blick. »Die Ra’zac bleiben zwanzig Jahre lang im Larvenstadium und
reifen während dieser Zeit heran. Beim ersten Vollmond ihres
zwanzigsten Lebensjahres werfen sie das Exoskelett ab, breiten die
Schwingen aus und sind nun ausgewachsene Exemplare, die fortan
jedes Lebewesen jagen, nicht nur Menschen.«
»Dann sind die Flugrösser, auf denen die
Ra’zac reiten, in Wirklichkeit...«
»Ja, es sind ihre Eltern.«